Bezahlte Information
Dr. Jayme Tauzer
Tea Time in Pflegeheimen in England: ein ethnografischer Blick
Die „Tea time“ in englischen Pflegeheimen stand im Zentrum meiner ethnografischen Studie. Die Studie zeigt, dass Teerituale zwar institutionelle Strukturen verstärken können, aber zugleich beim individuellen Teezubereiten bedeutsame persönliche Begegnungen entstehen. Geschlechterdynamiken prägen diese Begegnungen wesentlich. Pflege- und Betreuungspersonen sind eingeladen zu reflektieren, wie kulturelle Praktiken wie die ‚tea time‘ Zugehörigkeit im Pflegeheim fördern können.

Bezahlte Information

Eine Tasse Tee ist in englischen Pflegeheimen weit mehr als ein einfaches Getränk – gemeinsames Teetrinken ist kulturelles Ritual und vermittelt persönliche Identität. Während meiner ethnografischen Studie in Nordengland im Jahr 2021 konnte ich mittels Beobachtungen und Interviews der Beteiligten beim Teeservieren die Spannungen zwischen dem Anspruch personenzentrierter Pflege und institutionellen Zwängen im Pflegeheim betrachten.

Die in verschiedenen Bungalows auf einem Gelände verteilte Einrichtung veranstaltete Teatime-Events, die auf den ersten Blick ansprechend erschienen: Das Bistropersonal arrangierte auf gestärkten Tischdecken feines Porzellan und gestufte Kuchenständer, die Heimbewohner:innen und ihre vereinzelten Gäste konnten zwischen Tee und Latte wählen. Die ästhetischen Details schufen eine Atmosphäre, die vorübergehend den institutionellen Rahmen vergessen ließ und den Heimbewohner:innen kleine, gleichwohl bedeutsame Freiräume ermöglichte.

Doch die Beobachtung zeigte auch, dass von insgesamt rund 60 Bewohner:innen des Heims typischerweise lediglich 2-8 Personen an der Teatime teilnahmen. Susan war eine von ihnen. Als sie in ihrem Stuhl, während der Teatime einschlief, rief das Bistropersonal nach dem Pflegepersonal, um Susan in ihrem Rollstuhl aus dem Gemeinschaftsraum zurück in den Wohnbereich zu bringen. Ob diese Verlagerung Susans Komfort diente oder primär die soziale Ordnung aufrechterhalten sollte, blieb unklar. Es stellte sich jedoch die Frage, für wen solche „Eingriffe“ in die soziale Begegnung im Pflegeheim vorgenommen werden. Ähnlich verhielt es sich, als Julia ihren Cupcake in dreizehn Stücke teilte: Das Personal intervenierte ungefragt und räumte Julias Tisch ab. Diese Eingriffe offenbarten, wie eng die Parameter für eine angemessene Teilnahme an der Teatime in Wirklichkeit waren. Beide Beispiele zeigen bürgerliche Vorstellungen von Anstand einer „gepflegten Teegesellschaft“, die den Bewohnenden auferlegt wurden.

Die Intimität alltäglicher Teerituale

Im starken Kontrast zur Teatime im Bistro fand das gemeinsame Teetrinken in den Zimmern der Bewohner:innen statt. Dort waren im Alltag nicht selten mehrere Bewohner:innen beisammen. Es lag eine spürbare Wärme im Wissen, wie jede Person ihren Tee am liebsten trank. So bevorzugte Rose ein Stück Zucker und einen Schuss Milch, William mochte den Tee stark und mit Zitrone. Dieses geteilte Wissen schaffte Vertraulichkeit und Bindungen außerhalb der oft starren institutionellen Abläufe, die die Bewohner:innen nur wenig beeinflussen konnten. Der englische Glaube an die Kraft einer guten Tasse Tee, die es ermöglicht, die Stimmung zu heben aber auch Fürsorge zu vermitteln, behielt seine Wirkung für Bewohnende wie für Pflegende, die manchmal die Vorbereitungen unterstützten oder sich den Bewohner:innen anschlossen.

Im Gegensatz zu den institutionellen Teatime-Events entstehen diese Treffen auf dem Wunsch der Bewohner:innen. Die einfache Handlung, jemandem den Tee genau nach seinen Vorlieben zu bringen, vermittelte eine tiefgreifende Botschaft: Ich sehe dich als Individuum; ich erinnere mich an deine Vorlieben; du bist wichtig.

Kritische Betrachtung ästhetischer Pflegeinszenierungen

Die institutionellen Teatime-Events funktionierten als Rituale, die institutionelle Macht verstärken können, anstatt Abwechslung von eher starren institutionellen Abläufen und ein Gefühl der Zugehörigkeit zwischen den Bewohner:innen zu fördern. Die sorgfältig arrangierten ästhetischen Erfahrungen schaffen eine Illusion des häuslichen Lebens, die die institutionelle Umgebung verschleiert, anstatt sie zu transformieren. Auch angesichts einer geringen Teilnahme (max. 13 % der Bewohner:innen) müssen wir hinterfragen, ob diese bürgerlichen Vorstellungen von Anstand einer „gepflegten Teegesellschaft“ im Pflegeheim wirklich den Bewohnenden auferlegt werden sollten oder ob vielmehr ein anderer Umgang miteinander gelebt werden kann.

Anwendungen für österreichische Pflegekontexte und Pflegefachassistenz

Obwohl meine Beobachtungen in England stattfanden, stehen österreichische Pflegeheime vor ähnlichen Herausforderungen, gewohnte soziale und kulturelle Praktiken zu ermöglichen – sei es der Kaffeeklatsch, jahreszeitliche Feiern oder die Pflege verschiedener regionaler Bräuche. Auch hier stellt sich stets aufs Neue die Frage, ob Beziehungen in diesen Veranstaltungen gefördert oder doch nur „Illusionen“ geschaffen werden.

Für Mitarbeitende in Pflegeheimen lassen sich aus meiner Forschung einige praktische Überlegungen ableiten. Mitarbeitende sollten

  • erkennen, dass bedeutungsvolle Verbindungen oft eher in kleinen, alltäglichen Momenten, als in formellen Veranstaltungen entstehen.
  • hinterfragen, wessen (kulturelle) Präferenzen bei organisierten Aktivitäten im Mittelpunkt stehen.
  • überlegen, wie regionale Traditionen angepasst werden können, um individuelle Rhythmen und Präferenzen von Heimbewohner:innen zu würdigen.
  • eine Balance finden zwischen Dokumentationsanforderungen und institutioneller Effizienz einerseits und dem Raum für spontane, responsive Pflege andererseits.

Die Herausforderung liegt für Mitarbeitende darin, Räume zu schaffen, in denen sie das Spektrum menschlicher Bedürfnisse und Ausdrucksformen berücksichtigen können – auch wenn sie professionelle Vorstellungen davon stören, wie Pflege aussehen sollte.

Ausblick: Authentische Pflege im kulturellen Kontext

Vielleicht liegt die Antwort darin, die Intimität jener alltäglichen Teemomente in unsere formellen Pflegepraktiken einzubringen: zu wissen, wie jemand seinen Tee mag, und die Zubereitung als kleines Geschenk zu zelebrieren. In jedem kulturellen Kontext müssen wir kontinuierlich fragen: Wer definiert bedeutungsvolle soziale Verbindung? Wie können wir Räume schaffen, in denen Zugehörigkeit nicht davon abhängt, ästhetischen oder verhaltensbezogenen Erwartungen zu entsprechen?

Die Herausforderung bleibt konstant: jede Person als ganzheitlichen Menschen zu sehen, der eine Pflege verdient, die ihre volle Menschlichkeit innerhalb institutioneller Einschränkungen würdigt. Indem Pflegende weiterhin kritisch darüber reflektieren, wie kulturelle Kontexte und ästhetische Praktiken Pflegebeziehungen gestalten, können sie ihre bestehenden Handlungsansätze vertiefen und erweitern. Das bedeutet: einen Weg von ansprechenden Inszenierungen der Pflege hin zu einer noch authentischeren menschlichen Verbindung zu finden. Eine solche kontinuierliche Reflexion stärkt die bereits im Pflegeethos verankerten Werte: Einzigartigkeit anzuerkennen, Selbstbestimmung zu fördern und echte Zugehörigkeit in den Räumen zwischen institutioneller Notwendigkeit und menschlicher Würde zu schaffen.

Diesen Artikel weiterempfehlen.

Fußnoten

Hinweis: Alle Namen wurden aus Gründen der Anonymität geändert.

Zur Person

Dr. Jayme Tauzer
ist Universitätsassistentin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien. Sie forscht zu kulturellen und sozialen Dimensionen der Pflege älterer Menschen.
Kontakt: jayme.tauzer@univie.ac.at

unser infoservice

Wir informieren Sie sehr gern über zukünftige Neuerscheinungen und interessante Artikel. 

Weitere Artikel dieser Ausgabe

Bezahlte Information

pflegenetz.­newsletter

Mit unserem Newsletter informieren wir Sie
1x monatlich über Aktuelles, Neues und Wissenswertes aus dem Gesundheits-, Pflege- und Sozialbereich.

© pflegenetz 2025