Der Beruf Pflegeassistenz und Pflegefachassisstenz bietet scheinbar schnelle Lösungen, um den Personalmangel im Gesundheitswesen zu decken. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage, ob diese selektiven Kompetenzen dem Bedarf und den Anspruch einer professionellen Pflege genügen?
Der folgende Artikel versucht den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und gesundheitspolitischen Entscheidungen aufzuzeigen.
Angenommen Sie bringen ihr Auto, dass sie sehr mögen und das Ihnen sehr wichtig ist, in die Garage, weil es nicht mehr gut fährt. Vermutlich erwarten Sie von den Fachpersonen in der Garage Kompetenz, Sicherheit und Sorgfalt im Umgang mit dem Auto, weil es Ihnen sehr am Herzen liegt. Höchstwahrscheinlich haben Sie sogar die Erwartung, dass sich die Analyse des Problems nicht nur auf einen Teilaspekt bezieht, sondern dass man die gesamte Problematik analysiert. So weit, so gut. Nun erleben Sie jedoch folgende Szenarien:
Version A: Die Fachpersonen teilen ihnen mit, dass derzeit zu wenig Personal vorhanden ist und ihr Auto auf die Warteliste für die Reparatur gesetzt wurde. Wann die Reparatur stattfinden wird, ist noch ungewiss.
Version B: Es wird ihnen mitgeteilt, dass der Motor defekt sei. Jedoch fehle aktuell das Expertenwissen im Team, um den Motor zu reparieren. Zudem fehle für die fachgerechte Reparatur ein Ersatzteil. Dieses wurde zwar vor langer Zeit mal von der Garage hergestellt, werde aber nun von einem externen Zulieferdienst im Ausland produziert. Die Firma habe aktuell Lieferschwierigkeiten, wann die Reparatur nun erfolgt, sei nicht zu benennen.
Version C: Die Garage informiert sie, dass die Problematik ihres Autos behoben wurde. Allerdings habe die Person, mit der grössten Expertise Tag und Nacht gearbeitet, um ihrem zu Auto zu helfen. In der finalen Phase war es leider nicht mehr möglich, die letzten Reparaturen auszuführen. Die kompetente Fachperson sei infolge eines Burn Outs für unbestimmte Zeit ausgefallen. Die Garage bittet Sie um Verständnis, da Fachkräfte nun einmal Mangelware seien und letztlich könnten Sie sich glücklich schätzen, dass Ihr Auto überhaupt repariert wurde (in Anlehnung an, Heljskov Elvén & Abild McFarlane, 2020).
Die Frage erübrigt sich wahrscheinlich, ob Sie beim nächsten Mal wieder diese Garage wählen, oder ob es nicht ratsamer wäre, in Zukunft lieber komplett „autofrei“ zu leben. Was hat diese Geschichte mit Pflege zu tun, werden Sie sich vermutlich nun fragen, oder Sie haben die Parallelen bereits erkannt. Die Herausforderungen im Gesundheitswesen sind mittlerweile umfassend und teilweise so desolat, dass die Anekdote des defekten Autos eine Verharmlosung ist. Systemisch ist die Problematik der unzureichenden gesundheitlichen Versorgung gerade seit den 1980er-Jahren in Deutschland, Österreich, England und zunehmend auch in der Schweiz gewachsen. Seit den 1980er-/1990er-Jahren wurde das Gesundheitswesen immer stärker an Marktprinzipien, Deregulierung, Effizienz und Profitstreben ausgerichtet (Dawson et al., 2020). Um sich am Markt zu orientieren, war es notwendig, Krankenhäuser in kalkulierbare Räume zu verwandeln und alle Leistungen berechenbar darzustellen. Dies veränderte nicht nur das Abrechnungssystem und die Dauer eines Spitalaufenthaltes von Patientinnen und Patienten, sondern auch die tägliche Arbeit von Pflegefachpersonen (Foth, Lange & Smith, 2018). Wohlstand soll nach neoliberalen Ideen durch verstärkte Privatisierung und Deregulation von staatlichen Institutionen entstehen (Langen, 2024). Im kapitalistischen System dominiert eine Konkurrenz-, Wachstums- und Profithaltung, die sich auf unser Denken, Fühlen und Handeln auswirkt (Brand & Wissen, 2024, S.18).
Der ganze oder nur ein halber Mensch?
Die Arbeit von Pflegefachpersonen wird in Leitbildern oft als ganzheitliche, unterstützende, respektvolle Betreuung beschrieben (Büker & Lademann, 2019). Ausbildung sollte diese Perspektive der Ganzheitlichkeit fördern und ermöglichen. Pflege ist zudem eine Praxiswissenschaft, die ein theoretisches Geländer, aber auch einen Praxisbezug benötigt, um Wissen mit Erfahrung zu verknüpfen und diese zu analysieren. Aufgrund des gravierenden Personalmangels ist der „Ruf nach Funktionen“ wieder lauter geworden. Pflege wird in politischen Diskussionen leider oft auf simple Handgriffe reduziert (Zegelin & Quernheim, 2019).
Menschen, die schnell ausgebildet und rasch einsatzbereit sind, sollen den jahrzehntelangen Mangel beheben. Noch vor 30 Jahren war die sogenannte Funktionspflege eine übliche Praxis. Eine Person, war für das Temperaturmessen am Morgen zuständig. Die nächste Person übernimmt das Blutdruckmessen und so weiter. Diese Form der Arbeitsteilung stammt von Frederick W. Taylor (1856-1915). Der nach ihm benannte «Taylorismus» umfasst eine effiziente Prozessoptimierung, in der Zeiteinheiten einzelner Tätigkeiten definiert und bestimmten Berufsgruppen zugeordnet werden (Gulino & Hässig, 2020, S. 169). Die Idee und Umsetzung der Funktionspflege stammt aus der Industrie, um im Sinne des Taylorismus mit einer Aufsplittung ganzheitlicher Prozesse, die Produktivität und Effizienz zu steigern. Diese Fragmentierung beruht auf einem hierarchischen Verständnis. Die holistische Perspektive rückte Ende der 1970er-Jahre in der Medizin und Pflege zunehmend in den Blick, jedoch hat sich diese Entwicklung seit den 1990er-Jahren wieder zur Funktionspflege zurückentwickelt. Insbesondere mit der Einführung der Fallpauschale stellt sich die Frage, inwiefern die Patient:in und auch die Personalkosten für das vorhandene Abrechnungssystem profitabel sind (Eppinger, 2016). Pflege findet jedoch in einem Kontext statt, in Beziehung zum Menschen, der Biografie, der aktuellen Problematik sowie dem individuellen Bezugsrahmen, in dem sich die zu pflegende Person befindet. Bei Materialien, die abgepackt, verschnürt und geliefert werden sollen, ist der Taylorismus sicherlich eine effiziente Lösung. Aber sind die Kriterien aus der Industrie auch für das Gesundheitswesen geeignet?
Neue Ausbildungen oder Rückschritt?
Diskussionen darüber, wie sich der Personalmangel beheben lässt und wie man junge Menschen für die Pflege begeistern kann, führen auf politischer Ebene leider oft zu einer Simplifizierung der professionellen Pflege. Österreich erweiterte die Kompetenzen der Pflegeassistenz- und Pflegefachassistenzberufe. Subkutane und peripher venöse Verweilkanülen dürfen Pflegeassistent:innen unter Mitwirkung von medizinaltechnisch und therapeutisch kompetenten Fachpersonen entfernen. Der Tätigkeits- und Verantwortungsbereich von Pflegefachassistent:innen wurde ebenfalls vergrössert. Bei erwachsenen Patient:innen können sie nun transurethrale Katheter legen sowie entfernen (Forum Gesundheitsrecht, 2024). Auch in Deutschland soll der Beruf der Pflegeassistenz attraktiver werden, durch bundesweite Zentralisierung der Ausbildung. Die Ausbildungszeitbeträgt neu 18 Monate statt bisher 12 Monate (Groll, 2024; Lauterbach, 2024). Als Zugangsberechtigung ist in Deutschland ein Hauptschulabschluss Bedingung. Jedoch ist es auch möglich, gemäss individueller Prüfung der Berufsschule, den Beruf ohne einen vorherigen Schulabschluss zu erlernen. Mit dieser leichten Zugänglichkeit versucht man, auch Menschen aus dem Ausland für die Pflege zu gewinnen (Lauterbach, 2024).
Die Reduktion auf Funktionen ist in der Geschichte des Pflegeberufes nicht neu. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass die Pflegetätigkeit an Komplexität zunehmen wird. Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit sind allein in der Schweiz Personen im Alter von 50 Jahren zu ca. 10 % und Menschen über 75 Jahre zu 40% davon betroffen, eine chronische Mehrfacherkrankung zu entwickeln (BAG, 2024). Die Intercare Studie (2017-2022) von Michael Simons und Franziska Zúñiga hat festgestellt, dass sich zwischen 19% und 67% der Spitaleinweisungen aus Pflegeinstitutionen verhindern lassen, wenn unter anderem ausreichende Kompetenz bei Pflegefachpersonen besteht (Universität Basel, 2024). Im Rahmen der Studie wurde auch der Zusammenhang von Mortalität und gut ausgebildeten Pflegefachpersonal erhoben. Wenn der Anteil von diplomierten Pflegefachpersonen auf unter 75-80% sinkt, steigt für Patient:innen die Wahrscheinlichkeit früher zu sterben. Die Intercare Studie belegte zudem, dass sich mit gut ausgebildeten Pflegefachpersonen und einem angemessenen Personalschlüssel bis zu 2 Millionen Franken einsparen liessen (Camenzind, 2020).
Das defekte Auto und das Gesundheitswesen?
Leitlinien aus der Industrie sind im Gesundheitswesen nur bedingt anwendbar. Die Pandemie hat uns allen sehr deutlich gezeigt, wie renovierungsbedürftig das Gesundheitswesen ist. Anstatt Leistungen zu kürzen und vor allem bei der Aus- und Weiterbildung zu sparen, sollte die Politik investieren, nämlich in die Menschen. Ein Auto ist ersetzbar, ein Mensch ist es aber nicht. Gute Pflege ist für uns alle existentiell von der Geburt bis zum Tod. Die aktuellen und kommenden Herausforderungen in einer unsicheren Welt spiegeln sehr gut, wie wichtig es ist, miteinander neue Wege zu begehen. Der Neoliberalismus wird uns wahrscheinldich nicht vor der nächsten Pandemie oder den klimatischen Folgen retten.
Bundesamt für Gesundheit. (2024). Zahlen und Fakten zu nichtübertragbaren Krankheiten. Abgerufen am 27.10.24 von https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/zahlen-fakten-nichtuebertragbare-krankheiten.html
Büker, C. & Lademann, J. (2019). Beziehungsgestaltung in der Pflege. Stuttgart. Kohlhammer.
Brand, U. & Wissen, M. (2024). Kapitalismus am Limit. München: Oekom.
Camenzind, M. (2020). Die Beweise liegen auf dem Tisch: Pflege spart Milliarden. Abgerufen am 27.10.24 von https://nursing.unibas.ch/fileadmin/user_upload/nursing/Artikel_Krankenpflege_Pflege_spart_Milliarden_Sept_2020.pdf
Dawson, L., River, J., McCloughan, A. & Buus, N. (2020). Every single minute and hour is scrutinised’: neoliberalism and Australian private mental health care. Sociology of Health & Illness. ISSN 0141-9889, pp. 1–16. Abstract
Eppinger, U. (2016). Gesundheitswesen im Griff der Effizienz: Ärzte wehren sich gegen Fließbandarbeit. Abgerufen am 05.10.24 von https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4904485
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Foth, T., Lange, J. & Smith, K. (2018). Nursing history as philosophy-towards a critical history of nursing. Nursing Philosophy. 3(5). 1-11. Abstract
Thatcher, M. (1987). Interview for “Woman`s Own: („no such thing [as society]“). Verfügbar unter https://www.margaretthatcher.org/document/106689
Gulino, L. & Hässig, L. (2020). Das Care-Manifest – für eine andere Wirtschaftspolitik. Widerspruch74.
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Langen, K. (2024). Das regelt der Markt – oder?. Abgerufen am 12.10.24 https://fluter.de/neoliberalismus-geschichte
Lauterbach, K. (2024). Kabinett bringt Pflegeassistenzgesetz auf den Weg. Abgerufen am 12.10.24 vonhttps://www.springerpflege.de/bildung/politik/pflegeassistenzgesetz-auf-den-weg-gebracht—kritik-der-pflegeve/27651678
Theissen, J. (2024). Funktionspflege: Definition und Information. Abgerufen am 26.10.24 von https://www.medi-karriere.de/magazin/funktionspflege/
Universität Basel (2024). Intercare Studie. Abgerufen am 27.10.24 von https://nursing.unibas.ch/de/forschung/forschungsprojekte/laufende-projekte/intercare/
Zegelin, A. & Quernheim, G. (2019). Berufsstolz in der Pflege. Bern: Hogrefe.
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